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Von Siegfried Burghardt
Es war im Sommer 1943, als in Masuren im Ortelsburger- und im Neidenburger Land die sehnsüchtig erwartete Ferienzeit begann. Seit Ostern, als ich von der Volksschule in Theerwisch zum Hindenburg-Gymnasium nach Ortelsburg wechselte, war mein Leben abwechslungsreicher, aber auch anstrengender geworden. Das Fahrschülerdasein und die anspruchsvollen schulischen Anforderungen ließen mir nur wenig Zeit für die beliebten Natur-Abenteuer und Spiele in der vertrauten ländlichen Umgebung. Beim Lernstoff gab es Nachholbedarf, weil meine Dorfschul-Kenntnisse im Vergleich zu denen meiner städtischen Klassenkameraden lückenhaft waren.
So war ich hocherfreut, als Mutter mir mitteilte, dass ich einige Ferientage auf dem Bauernhof meines Opas, Julius Meyke, in Pilgramsdorf Kreis Neidenburg verbringen durfte. Unter dem Eindruck neuer Erlebnisse könnte ich die Gedanken an die Schule verdrängen und die häuslichen Pflichten vergessen.
Laut schnaubend und pfeifend beförderte mich die Dampflok auf der südlichsten Bahnstrecke Ostpreußens von Ortelsburg nach Neidenburg. Seit früher Kindheit selbständiges Handeln gewohnt und nicht am Gängelband der Eltern hängend, konnte ich problemlos ohne Begleitung fahren. Außerdem war ich als Fahrschüler mit der Bahn vertraut.
Opa Julius empfing mich am Neidenburger Bahnhof mit Freude, Herzlichkeit und Stolz auf seinen Enkel. In einem Kutschwagen mit zwei Pferdestärken machten wir uns auf den Weg nach Pilgramsdorf. Im Gespräch erfuhr ich, dass der sonst recht strengeGroßvater sich vorgenommen hatte, seinen Enkel zu verwöhnen. Ich würde es genießen, weil meine Mutter damit sehr sparsam umging.
Opa lebte allein auf seinem Altenteil. Seine Frau war früh gestorben, so dass ich sie als meine Oma nicht kennenlernte. Den Hof bewirtschaftete sein Sohn. Obwohl ich in einem Bauerndorf aufwuchs, gab es für mich im direkten Kontakt mit dem landwirtschaftlichen Betrieb und den Tieren viel Neues zu entdecken. Der Bauernhof mit traditioneller Bewirtschaftung war nicht einseitig spezialisiert und beherbergte viele Haustier-Arten.Opa hatte viel Zeit für mich, da erwünschte Enkelkinderauf seinem Hof noch nicht herumliefen. So begleitete ich ihn oft allein, wenn er die Tiere versorgte.
Am Wochenende lud der stolze Großvater mich zu einer Spazierfahrt mit der Kutsche ein.Solche Fahrten mit seinen edlen Trakehnern gehörten zum Programm, wenn er Gäste hatte. Sie nahmen im Zeitverlauf den Charakter eines Rituals an.Mir zeigte er auch seine Felder und Wiesen. Seine emotionalen Beschreibungen dazu offenbarten mir, dass er mit Leib und Seele Landwirt war. Ähnliche Eindrücke hatte ich auch bei Begegnungen mit anderen masurischen Bauern. Ich genoss es sehr, auf bequemem Sitz mit trabenden Pferden in ruhiger Fahrt ohne Hektik und Autolärm die Natur der masurischen Landschaft zu erleben.
Mit Genugtuung erfüllte mich Opas Vertrauen, als er mir erlaubte, mit mehreren Pferden allein zur Weide zu reiten.Ein Gaul diente als Reittier, die anderen liefen hinterher. Ich brauchte die Vierbeiner nicht mit einem Zügel zu führen. Gewohnheitsgemäß fanden sie den Weg auch allein. Der Sitz auf dem Pferderücken ohne Sattel war ein ganz besonderes Vergnügen. Ich spürte die Wärme des Vollblüters, konnte aber beim Galopp leicht herunterrutschen. Wenn ich mich an der kräftigen Pferdemähne in gebückter Haltung festhielt, landete ich nur selten auf dem Sandweg.
Die Heu- und Getreideernte war in vollem Gang. Die Landarbeiter hatten nichts dagegen, wenn Kinder bei der Ernte mit dabei waren. Das Versteckspiel in den Hocken der Roggengarben bereitete viel Spaß. Die Fahrt im Leiterwagen auf dem hoch gestapelten, duftenden Heu war ein Genuss besonderer Art.
Einen Ferientag mit Opa habe ich in besonders lebhafter Erinnerung behalten. Mit dem Pferdewagen fuhren wir beide zum Wochenmarkt nach Neidenburg. Er hatte Schweineferkel geladen, die er dort verkaufen wollte. Bereits bei der Anfahrt mit Blick auf den Markt staunte ich über die zahlreichen, gleichmäßig aufgereihten Pferdewagen auf dem großen Platz. Neben den Fahrzeugen standen die oft ausgespannten Pferde, versorgt mit Futter und Wasser. Zahlreiche Haustiere des neidenburger Landes gaben sich ein Stelldichein und würzten die Stadtluft mit ländlichen Düften. Die Vielfalt der Tierstimmen war unüberhörbar. Neben Wohlfühllauten hörte ich auch jämmerliche Angstschreie, wenn die hilflosen Kreaturen den Besitzer wechselten und verladen wurden. Dabei gingen die robusten Bauern nicht gerade zärtlich mit ihnen um. Besonders spannend fand ich, denLandmännern beim Feilschen zu lauschen. Manchmal verstand ich kein Wort, wenn die Bauern in ihrem masurischen Dialekt plachanderten. Weil er der polnischen Sprache sehr ähnelte, war es zur Nazi-Zeit verboten, öffentlich so zu sprechen. Einige Bauern, die sich gut kannten und gegenseitig vertrauten, kümmerten sich in persönlichen Gesprächen einen feuchten Kehricht darum. Opa Julius gehörte auch zu ihnen.
Nach einem erfolgreichen Verkauf seiner Ferkel zogen sich Opas Gespräche mit Freunden und Bekannten in einer Kneipe noch bis gegen Abend in die Länge. Als er sich endlich entschloss, nach Hause zu fahren, bemerkte ich, dass er beduselt war. Er torkelte zum Wagen und kletterte unbeholfen rauf. Kaum saß er neben mir, zogen die Pferde sofort an. Ich wunderte mich, dass sie es taten, obwohl er nicht hüüührief. Großpapa streichelte liebevoll meinen Kopf. Dann suchte er nach Worten, um mir seine Zuneigung kundzutun. Seine mühsam formulierten Sätze endeten schließlich mit einem unverständlichen Lallen. Noch mehr beeindruckte mich seine Schnapsfahne, die mich voll erwischte und fast schwindelig machte. Plötzlich ein monotones Schnarchen….Opa war im Land der Träume. Was nun? fragte ich mich. Ich entschloss mich, ihn nicht zu wecken. Gestützt auf die Seiten- und Rückenlehne nahm er eine stabile Lage ein. So wird er hoffentlich nicht herunterfallen, dachte ich. Nun witterte ich eine Chance, mich als Kutscher zu bewähren und dafür von Opa gelobt zu werden. Eigenartigerweise entglitten die Zügel nicht seinen Händen, und die Pferde fanden allein den Weg.
Zu meinem Erstaunen verließen sie nach etwa zwei Kilometern die Straße und hielten auf einem Parkplatz vor einem Gasthaus an. Niemand hatte prrrgerufen. Nun konnte ich mir die Reaktion der Gäule erklären: Sie verhielten sich so selbständig, weil sie mit Opas Gewohnheiten nach Stadtbesuchen sehr vertraut waren. Überrascht war ich auch, als mein Großpapa nach dem Stopp sofort den Schlaf beendete. In halbwegs klarer Sprache vernahm ich: Hier löschen wir immer unseren Durst. Echten Durst hatten nur die Pferde. Opa begab sich auf wackeligen Beinen zu einer Pumpe, wo mehrere Eimer standen. Mit den Worten ihr bekommt Gänsewein, stellte er jedem Gaul einen gefüllten Eimer vor die Nase.In der Kneipe trank er ein Bier und ein Korn und ich eine Brause. Den Rest des Weges durfte ich in der Dämmerung als stolzer Kutscher zurücklegen, während Opa noch ein Nickerchen machte. In Pilgramsdorf bot sich für mich keine Gelegenheit, in einem See zu baden. Doch alle Tage waren so abwechslungsreich, dass ich den Badespaß nicht vermisste. Trotz des wehmütigen Abschieds empfand ich bereits während der Rückfahrt im Zug Vorfreude auf das beliebte Baden im Rheinsweinsee und Lenkssee.
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