Das Jahr 1989 war ein sehr wichtiges Jahr für die Bewohner von Ermland und Masuren.
Über viele Jahre hinweg hatte es keinerlei Interesse an der Multikulturalität von Ermland und Masuren gegeben. Aber als nach dem Krieg die Grenzen verschoben wurden, erschienen auf dem Gebiet von Ermland und Masuren neben der autochthonen Bevölkerung auch andere Volksgruppen aus praktisch ganz Polen.
1989 entstanden schließlich – zum ersten Mal seit dem Jahr 1945 – etwa dreißig Gesellschaften der deutschen Minderheit. Dabei galt es zunächst, Grundlagen zu schaffen. Also von den Menschen, ihrer Geschichte und ihrer Kultur zu erzählen und auch – wie das bezeichnet wurde – „Brücken der Verständigung“ zu bauen. Die Masurische Gesellschaft versuchte im Verlauf der letzten 30 Jahre ihre Ziele durch kulturelle, verlegerische und didaktische Aktivitäten zu verwirklichen.
Kulturelle Aktivität
In den Jahren 1990 – 2020 waren zwei große internationale Veranstaltungen am bedeutsamsten:Zum einen das Sommertreffen, das mit der Zeit den Namen „Kultur- und Begegnungsfest der Masurischen Gesellschaft“ tragen sollte und zum anderen – die „Masurischen Gespräche“.Jedes Treffen hatte eine dreischichtige Struktur, die so aussah: Es gab ein Seminar zu einem bestimmten Thema, es gab Vorlesungen über frühere und heutige Literatur und es gab Begleitveranstaltungen, also Autorenlesungen, künstlerische Auftritte oder Ausstellungen.
Von der Vielfalt der aufgegriffenen Themen während der Sommertreffen zeugt die Bandbreite der Seminare.Die zweite große jährliche Veranstaltung der letzten 30 Jahre waren die „Masurische Gespräche“.Bei den Gesprächen ging es vor allem um Begegnungen mit deutscher Literatur und masurischer Kultur. Bis heute wird hier den geschichtlichen Ereignissen und deren Einfluss auf das persönliche Schicksal des Einzelnen viel Platz eingeräumt. Charakteristisches Merkmal aller Seminare, die im Rahmen der „Masurischen Gespräche“ stattfanden, war die aktive Teilnahme der Mitglieder der Masurischen Gesellschaft, die nicht nur Referate vorbereiteten, sondern auch ihre eigenen, oft tragischen Ereignisse mit anderen teilten.
Drei Phasen der Gespräche
In der Rückschau auf 30 Jahre „Masurische Gespräche“ lassen sich drei Phasen beobachten:In der ersten befassten sich die Masuren mit sich selbst. Sie beschlossen, mit ihrer eigenen komplizierten, vielschichtigen Identität fertig zu werden. Danach gefragt, wer sie sind, Deutsche oder Polen und – falls Masuren, eher deutsche oder polnische – antworteten sie, dass sie so sind, wie das Schicksal sie geformt hat. 1945 waren sie Deutsche, danach wurden sie gegen ihren Willen polonisiert. 1990 konnten sie plötzlich zu dem zurückkehren, was ihnen genommen worden war und was sie verborgen hatten. Sie konnten sich wieder treffen, deutsch reden, nach deutschen Büchern und Zeitungen greifen, frühere Lieder singen.
Aber diese Änderung kam zu spät. Die von ihnen geschätzte deutsche Sprache war nicht mehr die Muttersprache ihrer Kinder und Enkel. Deswegen waren viele Seminare, besonders viele „Masurische Gespräche“, dem Problem der Identität gewidmet sowie auch Formen und Methoden der Pflege der Muttersprache.Die zweite Phase war das sich Öffnen für andere nationale Minderheiten in Polen und Europa.
Hier widmeten sich die „Masurischen Gespräche“ Themen, die allgemein für Mitglieder einer Minderheit wichtig sind. Aus diesem Grund trafen sich auf den Seminaren dann Vertreter der ukrainischen, weißrussischen, litauischen, dänischen, deutschen, ungarischen und rätoromanischen Minderheit. Die Geschichte und die heutigen Probleme der anderen Minderheiten konnten hier besser verstanden werden.
Die dritte Phase – das ist die Bildung eines guten Klimas zwischen der deutschen Minderheit und der polnischen Gesellschaft. Die Mitglieder der Gesellschaft verheimlichen nicht, dass ihr Schicksal eng mit dem Los eines Grenzlandes verwoben ist. Das heißt, dass ihre nationale Identität vielschichtig ist und einiges darin enthält auch – aufgrund der Geschichte – polnische Elemente: Denn nach dem Jahr 1945 gingen die Angehörigen der deutschen Minderheit in polnische Schulen, arbeiteten in polnischen Betrieben oder heirateten polnische Ehepartner.Wichtig und immer anwesend, sowohl bei den „Sommertreffen“ als auch bei den „Masurischen Gesprächen“, waren Kinder und Jugendliche, die in Kursen, die von der Masurischen Gesellschaft organisiert werden, Deutsch lernen.
Eine Art schriftliche Fortsetzung dieser Treffen ist die „Masurische Storchenpost“. Denn alle Referate sowie Stimmen aus den entstandenen Diskussionen werden in den Spalten der Monatsschrift präsentiert.
Mittwochstreffen
Seit Januar 1992 ist die Stadtbibliothek in Sensburg Ort der Mittwochstreffen. Im Laufe der verflossenen Jahre fanden dort über 200 Treffen statt. Hier wurden gemeinsam die interessantesten literarischen Werke ostpreußischer Schriftsteller gelesen: u.a. von Marion Dönhoff, Siegfried Lenz, Arno Surminski, Herbert Reinoss, Horst Michałowski und Ulli Lachauer.Die Mitglieder der Masurischen Gesellschaft bereiteten zusätzlich auch persönliche Treffen mit Autoren vor. Es fanden Treffen u.a. mit Anna Stasiak, der Übersetzerin der Prosa Arno Surminskis, mit Joanna Demko, Andreas Kossert, Joanna Wańkowska-Sobiesiak, Małgorzata und Grzegorz Jasiński und Arkadiusz Łuba statt.
Jedes Jahr im Dezember finden außerdem die Adventstreffen statt, an denen die evangelischen Pastoren aus Rastenburg, Sorquitten, Sensburg oder Allenstein teilnehmen. Den künstlerischen Teil bereiten immer die Schüler vor, die unsere Deutsch-Kurse besuchen. In den letzten 29 Jahren haben uns immer zahlreiche Gäste zu diesen festlichen Adventstreffen besucht. Es waren hochrangige deutsche und polnische Politiker, bekannte Journalisten und Künstler, renommierte Wissenschaftler aus Polen, Deutschland, der Schweiz und England.
Verlegerische Tätigkeit
Die „Masurische Storchenpost“ ist die deutschsprachige Monatsschrift der Masurischen Gesellschaft. Gleich in ihrer ersten Ausgabe erklärte die Redaktion: „Wir legen in Ihre Hände die erste Nummer der STORCHENPOST. Warum STORCHENPOST? Weil die Teilnehmer des Treffens im Oktober sich gewünscht haben, dass das Symbol der Masurischen Gesellschaft eben ein Storch ist, ein Vogel, der seiner Heimat treu ist, jedes Frühjahr zu seinem Nest zurückkehrt und Freude und Glück bringt. Wir hoffen, dass die STORCHENPOST, die der Briefträger jeden Monat bringen wird, Ihnen auch ein wenig Freude bereiten wird.“
Im Oktober 1990 schließlich erschien die erste Nummer der „Masurischen Storchenpost“, im Oktober 2020 ist die Anzahl der Ausgaben auf bisher 383 angewachsen. Die „Masurische Storchenpost“ erfüllte und erfüllt die wesentliche Funktion einer Monatszeitschrift. Sie versucht konsequent, folgende Ziele zu realisieren: Kampf um die Rechte und die Würde der Minderheit, Stärkung des Identitätsgefühls, Vergrößerung des Gruppenzusammenhalts, die Überwindung des Gefühls der Entfremdung, die Gestaltung eines positiven Bilds der Minderheit, die Pflege der deutschen Sprache, die Verbreitung der deutschsprachigen Literatur des ehemaligen Ostpreußens, sowie der polnischsprachigen Literatur zu Ermland und Masuren, die Gestaltung eines guten Zusammenlebens verschiedener Minderheiten untereinander und nicht zuletzt die Gestaltung eines guten Zusammenlebens mit der polnischen Mehrheitsgesellschaft.Die Leser der Zeitschrift sind in der Mehrzahl ältere Menschen, gebürtige Einwohner von Ermland und Masuren, die die deutsche Sprache noch gut kennen. Einen kleinen Prozentsatz der Leser stellen Masuren, die nach dem Krieg unter verschiedenen Umständen ihre Heimat verlassen haben und heute in Deutschland, Dänemark, Frankreich oder Schweden wohnen.Aber auch junge Menschen gehören zu den Lesern der Monatsschrift.
Didaktische Tätigkeit
Die didaktische Tätigkeit bestand in den letzten 30 Jahren hauptsächlich darin, die deutsche Sprache zu pflegen. Im Jahr 1990 sah die Situation folgendermaßen aus: die ältesten Mitglieder der Gesellschaft kannten die Sprache sehr gut. Die in den späten 40er Jahren Geborenen, die nicht in deutsche Schulen gegangen waren, kannten die Sprache aus dem Elternhaus. In gemischten Ehen war es unterschiedlich.
Nicht immer hatte die deutsche Sprache an die Kinder und Enkel weitergegeben werden können.Deswegen waren auch alle von der Gesellschaft organisierten Veranstaltungen zweisprachig.
Die Masurische Gesellschaft organisierte, um die Zweisprachigkeit der Menschen des Grenzlandes zu fördern, ab Februar 1994 kostenlose Deutschkurse für alle interessierten Kinder (unabhängig von ihrer nationalen Identität).
Diese Kurse richteten sich an Kinder im Alter von 8-14 Jahren und fanden statt in Sensburg, Eichmedien, Rastenburg, Kruttinnen, in Groß Borken, Lötzen und Aweyden. Ab 2006 auch zusätzlich in der Grundschule in Kruttinnen und ab 2019 in der Grundschule in Peitschendorf.Die Kinder können ihre erworbenen sprachlichen Fähigkeiten dann während des „Tags der Märchen und Legenden“ sowie während der Adventstreffen präsentieren.
Projekte, die nicht realisiert wurden.
Dreißig Jahre sind eine Zeit für ein Resümee. Wir haben viel gemacht, aber hätten wir mehr machen können? Sicherlich ja. Der größte Schatten in unserer Tätigkeit ist das Nicht-Zustandekommen einer Mittelschule mit Deutsch als Unterrichtssprache. In den 90er Jahren hätte es diese Möglichkeit gegeben. Die Mittel waren gesichert, das Gebäude gab es auch – nur fehlte es an Interessierten, die die Schule geleitet hätten.Nicht vollständig zufriedenstellend ist auch die Realisierung des Projekts „Rückkehr zur deutschen Sprache“. Insgesamt gab es diesem Projekt gegenüber auch zu wenig Offenheit. Viel Platz und Zeit wurde der Stärkung der eigenen, separaten Identität gewidmet, aber der Bau von Brücken zur gegenseitigen Verständigung erfordert das Schaffen von Möglichkeiten, diese Brücken von beiden Seiten zu betreten. Alle nationalen Minderheiten sollten beim Bau einer offenen, pluralistischen Gesellschaft mitwirken. Eine Öffnung der deutschen Minderheit nach beiden Seiten ist also unerlässlich.
Blick in die Zukunft.
Und die Zukunft? Derzeit findet ein Generationenwechsel statt. Viel hängt jetzt von der zweiten und dritten Generation ab. Hoffnungsvoll beobachten wir einige Initiativen lokaler und landesweiter Vereine. Nicht alle kann man hier nennen, aber besondere Aufmerksamkeit verdienen sicherlich
– die Gesellschaft Anima und das Masurische Wandertheater,
– das gemeinsame Projekt der evangelisch-augsburgischen Gemeinde in Sorquitten und des Vereins „Freunde Masurens“, nämlich „die Sorquitter Gespräche“,
– der „Masurische Tag“, dessen Hauptorganisator die Diözese Masuren war (Oktober 2020)
– und die Buch-Editionsreihe „Moja Biblioteka Mazurska“ (dt. „Meine masurische Bibliothek“) des Verlags Retman.
Es besteht also Hoffnung, dass die Vergangenheit Ermland und Masurens nicht dem Vergessen anheimfällt.
Dieses Land mit seiner Geschichte und seinem reichen kulturellen Erbe hat es verdient. Für die vielen und zahlreichen Pläne, die wir tatsächlich realisieren konnten, gilt es zu danken. Unser Dank gilt hier vor allem dem Außenministerium sowie dem Ministerium des Inneren, für Bau und Heimat der Bundesrepublik Deutschland, dem Ministerium für Inneres und Verwaltung in Warschau, der Selbstverwaltung der Woiwodschaft Ermland-Masuren sowie einzelnen Sponsoren.
Im eigenen Namen und dem aller Mitglieder der Masurischen Gesellschaft danke ich außerdem für die erfolgreiche Zusammenarbeit in den letzten 30 Jahren: dem Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Danzig, dem Departement für nationale und ethnische Minderheiten des Ministeriums für Inneres und Verwaltung in Warschau, dem Departement für Kultur und Wissenschaft des Marschallamtes in Allenstein, dem Verband der deutschen Gesellschaften in Oppeln, der Stiftung für die Entwicklung Schlesiens in Oppeln, dem Bischof der Diözese Masuren und den Pastoren der evangelisch-augsburgischen Gemeinden in Sensburg, Sorquitten, Rastenburg, Allenstein und Lötzen, der Woiwodschaftsbibliothek in Allenstein, der Stadtbibliothek in Sensburg, den Direktoren der Grundschulen in Kruttinnen und Peitschendorf, dem Masurischen Landschaftspark in Kruttinnen, der Gesellschaft „Freunde Masurens“, den Gesellschaften der deutsche Minderheiten in Allenstein und Sensburg, den Eigentümern der Hotels „Panoramic-Oscar“ in Sensburg und „Habenda“ in Kruttinnen.
Herzlichen Dank an alle wie auch an alle anderen hier nicht genannten Helfer, die uns in den letzten 30 Jahren unterstützt haben.
Barbara Willan
übersetzung ins Deutsche Uwe Hahnkamp
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