Das Paradies
Von Arno Surminski
Wenn du wissen willst, was Kalischken ist, gib mir die Hand und komm' mit zum Schuster Kristan. Besuche jenes Strohdachhaus am Dorfeingang, das seit der Franzosenzeit eine bedenkliche Neigung nach Osten hat, aber nicht fallen will, das fast erdrückt wird von zwei Pappeln, die über dem Schornstein des Schusters ihre Köpfe zusammenstecken. Gutes Wetter muß sein. Dann sitzt der Schuster mit dem Flickzeug unter den Pappeln, hört die Bienchen summen und die Spatzen im moosbedeckten Strohdach schilpen.
„Na, Meister, sind die Schuhe fertig?“ mußt du ihn fragen.
Er wird dir keine Antwort geben. Wenn du Glück hast, schiebt er dir einen Schemel hin. Das heißt, du sollst Platz nehmen im geräumigen Wartezimmer des Schusters Kristan. Huckst dich also unter die Pappeln und wartest, bis der Schuster den Mund aufmacht. Der kann stundenlang schweigen. Der schickt dich auch schweigend zum Krug, um ein halbes Literchen Bier zu holen, denn der Geist der Sprache muß gelockt werden, der fühlt sich nur wohl in einer Mischung aus Bierschaum und Kautabak. Kaum sind die beiden vermengt, legt der Schuster los.
„Was willst du hören?“
In Kalischken weiß jeder, warum das Haus des Schusters Kristan schief steht, warum seine Pappeln nicht kerzengerade in den Himmel wachsen, wie es sich für anständige Bäume gehört, warum die Balken über der Haustür zur Erde hin gekrümmt sind und auf der Schwelle der verkohlte Abdruck eines Pferdehufes zu erkennen ist. Das kommt von den unglaublichen Geschichten, die Schuster Kristan zu erzählen weiß, von den kopflosen Pferden, die um Mitternacht über die Dorfstraße traben, vom Teufel, der sein behaartes Hinterteil ausgerechnet an Christi Himmelfahrt in den Schornstein des Schusters hängte, dort seinen Dreck ablud und die Rauchöffnung erst freigab, als Kristan einen Bienenschwarm in den Schornstein jagte.
Aber du bist gekommen, um nach Kalischken zu fragen. Dann bitte den Schuster, dir die Geschichte vom Erzengel Gabriel zu erzählen.
Sie trug sich zu, die Geschichte vom Erzengel, im Heiligen Land zu einer Zeit, als Kristan noch jung war. Damals wanderte er zu Christi Grab, brauchte fünf Jahre und ein paar Wochen für die beschwerliche Reise, setzte sich nach der Ankunft auf den Ölberg bei Jerusalem, fand eine Quelle (direkt unter einem Kruschkenbaum), wusch den Staub des Weges aus dem Gesicht und machte sich wieder auf den Heimweg Richtung Kalischken.
Wenn du an dieser Stelle ungläubig den Kopf schüttelst, zeigt dir der Schuster einen türkischen Krummsäbel, der neben seiner Haustür baumelt. Ein Räuber hat ihn im Kampf verloren, als er den Schuster daran hindern wollte, durch den Bosporus zu schwimmen. Kristan nahm ihm nicht nur den Säbel ab, sondern trennte auch das rechte Ohr des Wegelagerers vom Kopfe. Das eingelaufene, vertrocknete Räuberohr liegt in der Schlafstube des Schusters, direkt unter dem Kruzifix.
Den Erzengel traf der Schuster auf dem Heimweg, als Kristan in der Mittagshitze ausruhte. Er hatte zur Erfrischung die staubigen Füße in das Wasser des Jordans gesteckt und den Kopf auf ein Grasbüschel gelegt. Ein Feigenbaum verbreitete Schatten über dem müden Schuster. Als er so dalag und an Kalischken dachte, kam der Bote Gottes mit weit von sich gestreckten Flügeln über das Jordanwasser spaziert, trocknete im Gras seine Füße ab und schwang sich behende in das Geäst des Feigenbaums. Da saß er, der Erzengel.
„Was treibst du dich im Heiligen Land herum, Schuster Kristan?“ fragte er von oben herab.
„Ach, lieber Gabriel“, antwortete der Schuster. “Ich suche das Paradies, in dem Milch und Honig fließen. Aber wohin ich auch komme, ich finde nur Sand und Steine“.
Der Erzengel schneuzte sich kräftig und blickte nachdenklich zur Erde.
„Das Paradies gibt es schon“ - sagte er nach langem Überlegen.
„Aber es ist sehr schwer zu finden, denn es ist nur ein winziger Fleck, den du leicht verfehlen kannst“.
Er kletterte aus dem Feigenbaum, nahm Platz neben Kristan, räusperte sich und spuckte in das träge fließende Jordanwasser.
„Pass' auf, ich will es dir beschreiben! Wenn du hereinkommst in das Paradies, stehen da drei mächtige Bäume, ich glaube, es sind Linden. Du kannst sie nicht verfehlen, denn sie duften nach frischem Honig. Du gehst die Pflasterstraße abwärts, kehrst dich nicht um das weiße Haus zu deiner Rechten, denn es ist ein Wirtshaus“.
Kristan wunderte sich zwar, daß es im Paradies ein Wirtshaus geben sollte, aber er wagte nicht, den Erzengel zu unterbrechen.
„Du wanderst also an dem weißen Haus vorüber mitten hinein ins Paradies. Bald stehst du vor einem Anger, besprenkelt mit Blumen, die meisten gelb, einige auch weiß und blau. Kühe grasen kreuz und quer, auch Osterlämmer hüpfen über deinen Weg. Enten, Gänse und Hühner findest du reichlich im Paradies, dazu eine Quelle mit frischem Wasser. Ein Stückchen weiter liegt der Poggenteich mit allem Getier, das sich im Wasser wohl fühlt. Die Fische springen lustig, die Frösche machen Musik, und der Klapperstorch spaziert am Ufer auf und ab. Rundherum findest du Häuser, kleine Hütten nur, denn im Paradies braucht man keine Paläste. Die Schwalben fliegen zu den Fenstern rein und raus, im Dreck vor der Tür spielen die Kinder des Paradieses. Hinter den Häusern wogen die Kornfelder, der Mohn blüht in den Rüben, der Kuckuck ruft, der Habicht kreist über dem Acker, und vom Waldrand kommen die Krähenschwärme zu Besuch ... „
Da sprang der Schuster auf und rief. „Das ist Kalischken! Da komm' ich gerade her!“
Der Erzengel blickte ihn traurig an.
„Armer Schuster“, sagte er.
„Ist es wahr, du hast Kalischken verlassen, das einzige Paradies, das es auf Erden gibt?“
„Ja, so ist es“, brummte Kristan.
„Steh' auf und beeile dich! Vielleicht kannst du es in diesem Leben noch erreichen. Aber du mußt dich sputen, Schuster Kristan, denn bald gibt es keine Paradiese mehr!“
Nachbemerkung
Um ehrlich zu sein: Dieses Kalischken hat es nicht gegeben. Es lag an der litauischen Grenze, war auch im tiefen Süden Masurens zu finden, selbst in der Nähe Königsbergs suchte man es nicht vergeblich. Kalischken: das waren ein paar ins Land gekuschelte Strohdachhäuser, beliebige Dörfer zwischen Nogat und Memel, in denen die Zeit immer ein paar Wegbiegungen hinterher-humpelte, kleine Pausen einlegte und am Straßenrand ausruhte.
Aber wenn es schon kein Kalischken gibt, so sind seine Geschichten wenigstens wahr. Auch jene, die ihr Leben der ausschwärmenden Phantasie verdanken. Denn das Mögliche ist oft wahrer als das Wirkliche. Die Geschichten von Kalischken sind irgendwo geschehen im Land der Klapperstorchwiesen und der Schilfrohrwälder ... oder sie könnten geschehen sein. Kalischken war überall.
Arno Surminski
Aus: Arno Surminski: „Aus dem Nest gefallen”. Geschichten aus Kalischken.
Verlag Werner Gebühr, Stuttgart, 1976
barbara.willan@gmail.com
Die Webseite wird vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziell unterstützt.
Webmaster: Ewa Dulna
Kontakt:
mail: barbara.willan@gmail.com
tel. 606 680 218
ul. Prosta 17/3
10 - 029 Olsztyn
https://stowarzyszeniemazurskie.pl/
https://stowarzyszeniemazurskie.pl/de
Zrobione w WebWave CMS